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Wohnen

"D Meersäuli müend etz ässä"

Tom Ackermann, Leiter Lebenswelt Wohnen & Freizeit, Mitglied der Geschäftsleitung

21. Juli 2024
Der Wagerenhof ist das bleibende «Dihei» für rund 250 Bewohnerinnen und Bewohner. Einige Wohngemeinschaften sind gleichzeitig auch ein Zuhause für Tiere. Wir haben ein paar von ihnen besucht und werfen einen Blick auf ihre Bedeutung. 

Der Sonntag ist normalerweise der Bett- und Zimmertag von Dolores Parisi: Sie mag es, einfach zu chillen und rumzuhängen. Doch heute empfängt sie mich in ihrem Zimmer, um mir von ihren Meerschweinchen zu erzählen: «Di Chline sind lieb und frech», sagt sie zur Begrüssung. Seit 1977 lebt die 61-jährige quirlige Dolores im Wagerenhof. Neben ihrem 50 %-Pensum in den Ateliers hat sie in der WG Stern eine wichtige Aufgabe: Sie kümmert sich um die mittlerweile vier Meerschweinchen, die ebenfalls hier leben. Den Anfang machten Speedy und Lili. Sie wurden von einer heranwachsenden Frau nicht mehr ausreichend versorgt. Über private Kontakte entstand die Idee, die Tiere auf die WG Stern zu nehmen. «Dolores durfte zuvor schon während den Ferien auf zwei Meerschweinchen aufpassen und nahm diese Aufgabe sehr gut wahr», sagt Marco Galli, Co-Teamleiter der WG Stern.

Verantwortungsvoller Umgang

Begleitet von Mitarbeitenden, übernahm Dolores schrittweise Aufgaben in der Betreuung. Die «Säuli», wie sie von ihr liebevoll genannt werden, können sich mittlerweile auf ihre Pflegerin verlassen. «D Säuli müend etz ässä», ruft sie dem diensthabenden Mitarbeiter zu und bleibt hartnäckig, bis das Futter bereit ist. Liebevoll versorgt sie die Tiere mit einem Stück Gurke oder Rüebli, Peperoni und Salat. «Dolores geht auch gern in die Rüstküche im Hauptgebäude und holt das Essen für die Tiere, wenn bei uns in der WG was fehlt», ergänzt Galli. Seit sie sich verantwortlich fühlt für die Tiere, sei sie richtig aufgeblüht. Stolz ist Dolores, wenn sie einmal am Tag ein Meersäuli auf dem Schoss halten darf. «Es Tüechli muess uf d Bei», meint sie ganz ernst. Seit eines der Tiere bei einer solchen Streicheleinheit auf ihre Hose pinkelte, ist ihr diese Sicherheitsmassnahme wichtig. Selbstverständlich sei Dolores nie mit den Tieren allein, betont Galli. «Obwohl es sehr schön ist, zu sehen, wie verantwortungsvoll sie mit den Tieren umgeht.»

Nachfolgeplanung vorgenommen

Doch: Speedy und Lili sind bereits sehr alt. So machte sich die WG Gedanken über die Zukunft. Als die externe Bezugsperson Dolores nach ihrem Weihnachtswunsch fragte, war die Idee geboren: zwei junge Meersäuli! Dolores wurde in den Prozess von Beginn weg involviert. Von der Co-Teamleitung begleitet, durfte sie in einem Zoogeschäft die Meersäuli aussuchen. Sie fand schnell den Draht zu zwei besonders lebendigen Tieren. «Hannelore und Heino fühlten sich bei ihr sofort wohl», schaut Marco Galli auf den Ausflug zurück. Und fügt hinzu: «Genauso wichtig war für sie an diesem Tag, dass es im Einkaufszentrum auch Döner und Pommes gab. Ab und zu ein bisschen Junk-Food gehört dazu!» Stolz zeigt mir Dolores die beiden Gehege im Wohnzimmer und öffnet das Gitter bei den beiden alten Meerschweinchen. Lili lässt sich gern streicheln. «Di Chline au mal hebä!», sagt sie und zeigt auf das andere Gehege. Noch sind Hannelore und Heino zu wild und zu ungestüm, um sie auf den Schoss zu nehmen. So wie Dolores mit den Tieren umgeht, wird das sicher bald möglich sein.

 

Auch Katzen gehören zum Wagi

Von der WG Stern geht es weiter aufs Tipi. Dort leben seit einem Jahr zwei Katzen: Lola und Oggi. Immer wieder sei der Wunsch nach einer Katze geäussert worden, sagt Co-Teamleiterin Jenny Rhyner. Zuerst kam Lola in die WG. Da sich viele Bewohnerinnen und Bewohner stark auf sie fokussierten, beschloss man, mit Ella und Oggi nochmals zwei Katzen aufzunehmen. «Die beiden Geschwister haben sich aber nicht so gut vertragen, so dass Ella zur WG Seestern weiterzog», blickt Rhyner auf die turbulente Anfangsphase zurück.

Die Bewohnerinnen und Bewohner kümmern sich – auch hier betreut von Mitarbeitenden – abwechslungsweise um die Tiere. Einige sind dabei sehr selbständig: «Xenia Bruss beispielsweise. Sie schaut, ob genug Wasser da ist, füttert sie und mistet die Kiste aus.» Die 27-jährige Xenia ist zu Hause mit Katzen aufgewachsen und freut sich sehr, dass sie diese Aufgabe nun wieder übernehmen kann. Und natürlich liebt sie es, mit den Katzen zu schmusen.

«Oggi und Lola könnten unterschiedlicher nicht sein», so Rhyner. Lola würde am liebsten den ganzen Tag fressen, bleibe daher praktisch immer auf der WG. Oggi sei ein richtiger Wandervogel. «Der Wagi ist sein Revier.» Tatsächlich ist der schwarze Kater überall anzutreffen. So holt er sich beim Pflegedienst Nacht oder in der Finanzabteilung regelmässig seine Streicheleinheiten. «Aber er weiss, wohin er gehört. Spätestens, wenn er Hunger hat, ist er wieder da», schmunzelt Jenny Rhyner, als sie ein forderndes Miauen vor der Türe hört. «Wir haben zwar ein Katzentörli, aber Oggi mag es, wenn man ihm die Türe öffnet.»
 

Ella kann sich auf Selina  verlassen

Mittlerweile ist es 15.30 Uhr an diesem Sonntagnachmittag. Zeit, die WG Seestern blau zu besuchen. Dort wartet Selina Bieri. Sie ist ebenfalls 27 und wohnt seit bald fünf Jahren im Wagerenhof. Heute ist sie extra etwas früher aus dem Wochenende bei ihrer Mutter zurückgekommen, um mir von Ella zu erzählen.

 

Ella kam vor einem Jahr mit Oggi in den Wagerenhof. Seit ca. drei Monaten lebt sie nun fix in der WG Seestern blau. «Anfänglich kam sie vor allem tagsüber und ging abends zurück auf die WG Tipi. Jetzt ist sie ganz bei uns eingezogen», sagt Sabrina Reinhold, Teamleiterin der WG Seestern blau. Die WG ist eine sogenannte Strukturwohngruppe: Herausfordernde Verhaltensweisen der Bewohnerinnen und Bewohner gehören hier zum Alltag. «Wir mussten sicherstellen, dass Ella Rückzugsorte hat und die Bewohnenden einen gewissen Abstand einhalten. Das funktioniert mittlerweile sehr gut.» 

Selina ist mit ihrem Sprachcomputer bereit für das Gespräch. Obwohl sie eigentlich nach dem Wochenende zu Hause lieber die WG erkunden und Ella begrüssen möchte. «Wo wohnst du? Welches Auto fährst du?», fragt sie mich am Tisch im Wohnzimmer sitzend. Gerne beantworte ich ihre Fragen. Dann geht’s los: «Spielen. Streicheln.» Dies seien ihre liebsten Beschäftigungen mit Ella. Dass Selina die tierische Bewohnerin ins Herz geschlossen hat, ist spürbar. Immer wieder geht sie zu Ella hin, nimmt sich dann aber auch Zeit für das Gespräch. Sie zeigt uns die Kiste mit dem Katzenspielzeug, welches sie mit ihrer Familie gebastelt «Selina liebt es, Ella zu beobachten. Sie findet dabei eine Ruhe, die für sie ganz wichtig ist und ihr sonst oft schwer fällt.» Sabrina Reinhold, Teamleiterin WG Seestern blau hat, und möchte mir schliesslich mit dem Talker etwas mitteilen: «Tschüss!» Ein klares Zeichen, dass das Gespräch für sie beendet ist. Auf direktem Weg steuert sie auf den Mitarbeiter zu, der mittlerweile seinen Spätdienst angetreten hat und sich in den nächsten Stunden um Selina kümmern wird.

 

Lebensqualität und Verantwortung

Die Besuche zeigen auf eindrückliche Art und Weise, wie wichtig Haustiere für die Lebensqualität unserer Bewohnerinnen und Bewohner sein können. Das Strahlen in den Augen, die begeisterten Erzählungen und der Stolz über ihre Aufgabe bestätigen mir, dass die Entscheidung, Haustiere in den Wohngemeinschaften zu halten, richtig ist. Selbstverständlich braucht es eine sorgfältige Prüfung der individuellen Situation, bevor ein Haustier einzieht. Das Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch der Tiere, muss jederzeit gewährleistet sein. Werden diese Abklärungen gemacht und sind die Mitarbeitenden zu dieser zusätzlichen Aufgabe bereit, steht einer schönen Ergänzung des WG-Alltags nichts mehr im Wege.

Agogische Bedeutung und Verantwortung

Jana Lüscher ist agogische Hausverantwortliche im Hausverbund C. Sie zeigt auf, was es im Umgang mit Haustieren auf Wohngemeinschaften zu beachten gilt. Haustiere fördern die Selbständigkeit und die Selbstbestimmung der Bewohnerinnen und Bewohner. Sie übernehmen Verantwortung, indem sie gewisse «Ämtli» wie Füttern oder Ausmisten ausführen. Die Aufgaben rund um Haustiere können auch einen positiven Einfluss auf die Sozialkompetenzen haben. Die Bewohnerinnen und Bewohner erfahren, was ein angemessener Umgang mit den Tieren bedeutet. Sie nehmen Rücksicht und lernen, empathisch zu sein. Wichtig ist, dass es in der Wohngemeinschaft klare Regeln gibt. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen von den Mitarbeitenden adäquat begleitet werden. Die Regeln beinhalten sowohl den Umgang mit den Tieren wie auch die Integration der Tiere in den Alltag der Bewohner. Tiere können auch Konfliktpunkt sein, wenn sie zu Eifersucht führen oder zu viel Raum einnehmen, sodass der Alltag auf der WG beeinträchtigt wird. Der Einzug eines Haustieres erfordert eine umfangreiche Vorbereitung. Die Konstellation in einer WG muss analysiert werden. Der langfristige Verbleib des Haustieres muss gewährleistet werden können. Das sind wir dem Haustier genauso schuldig wie den Menschen, die in der Wohngemeinschaft arbeiten und wohnen.

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