«Gian hat kein Zeitgefühl», erklärt Carmelo. Begriffe wie «gestern», «heute» oder «in zwei Tagen» seien in seiner Wahrnehmung nicht fassbar. «Ereignisse, wie der Geburtstag seiner Grossmutter im September, finden für Gian einfach morgen statt. Er fokussiert sich dann täglich darauf. Egal wie lange es bis dahin noch dauert.» Oft mache ihn das unsicher.
Seit drei Jahren arbeiten die beiden als eingespieltes Tandem. Oft erfordert Gians Wesen aussergewöhnliche und kreative Lösungen. Nur so ist ein geregelter Alltagsablauf möglich. Gian kann beispielsweise nicht lesen oder zählen. «Jeder Versuch, es ihm beizubringen, blieb ohne Erfolg», erinnert sich Carmelo.
Carmelo, unser herzlicher und sprachtalentierter Sizilianer, arbeitet seit neun Jahren in der Cafeteria und ist dort seit 2018 zuständig für die agogische Betreuung. Er strahlt: «Aus beruflicher wie auch persönlicher Sicht hat Gian enorme Fortschritte gemacht.» Oberstes Ziel war, ihm eine gewisse Unabhängigkeit und ein stabiles Mass an Selbstvertrauen zu vermitteln. Mithilfe einer Pikto-Aufgabenagenda fing Gian an, seine Aufgaben selbstständiger zu verrichten. «Er musste lernen, die Wochentage zu unterscheiden. Nun besprechen wir jeweils, welcher Tag heute ist und welche Aufgaben anfallen.» Dazu gehören: den Kühlschrank mit Getränken füllen, die Tische sauber machen oder Kaffeejeton abzählen und in Säcklein abfüllen. «Die Ausdrücke‹Let’s go› oder ‹Let’s do› unterstützen Gian dabei, die Situation besser einzuschätzen, und dienen zugleich als motivierende Antriebskraft.»
Fortschritt dank kreativen Lösungen «Da Gian keine Jetons zählen kann, musste ich mir ein Hilfsmittel überlegen.» In Zusammenarbeit mit der Werkstatt entwickelte Carmelo einen kleinen Holzschlitten, der genau zehn Jetons fasst und entsprechend angeschrieben ist. «So kann Gian sie abzählen und direkt abfüllen.» Gleichzeitig lerne er die Zahlen kennen. «Ich bin jetzt Meister im Auffüllen der Getränke und der Jeton-Säckli», sagt Gian leise. Er spricht nicht viel, doch früher kommunizierte er nur mithilfe seines IPads. Es kam kaum ein Wort über seine Lippen. «Insofern ist er zu einer wahren Plaudertasche geworden», lacht Carmelo.
Gian ist eine enorme Bereicherung geworden Gian zeichnet sich durch seine aufmerksame, selbstlose und empathische Art aus. Erkennt er ein Bedürfnis eines Teammitglieds, möchte er dieses sofort erfüllen. So sammelte er beispielsweise Möbelprospekte, als er wusste, dass Carmelo seine Wohnung neu einrichten will. «Ich reite gerne auf Cocktail», erzählt Gian zum Abschluss. «Cocktail» ist sein Therapiepferd. «Eine solche Aussage hätte man vor drei Jahren nicht aus seinem Mund gehört», sagt Carmelo – und an Gian gerichtet: «Du bist unser Sonnenschein! Wir sind alle stolz, dass du ein Teil unseres Teams geworden bist.» Ein Leuchten blitzt in Gians lieben Augen mit den langen Wimpern auf. Etwas schüchtern sagt er: «Ich auch.»